Demutslehre und ihre zwölf Stufen
Klosterheilkunde aus dem Europakloster Gut Aich
Der Heilige Benedikt symbolisiert die zwölf Stufen der Demut mit einer Leiter als Verbindung von Himmel und Erde
Mitten im Winter, der Schnee bedeckt noch die Felder und die Gärten und wir warten auf den Frühling. Wir sind aber auch froh, dass der Schnee und der Frost der Erde und den Pflanzen Gutes tut. Frost und Schnee sind für uns auch unentbehrliche Hilfen bei der Schädlingsbekämpfung. Außerdem brauchen die Erde und die Pflanzen Ruhe. Wir freuen uns alle auf das neue Leben, das kommen wird. Diese Zeit lädt uns alle ein inne zu halten. Ich habe die Anregung bekommen, in diesem Artikel das spirituelle Thema der Demut aufzugreifen. Zu viele Missverständnisse werden mit diesem Thema verbunden. Ich versuche durch die Demutslehre einige neue Aspekte dieser spirituellen Lebenshaltung aufzuzeigen, die ein wesentlicher Teil der europäischen Klosterheilkunde ist.
Demut ist Menschlichkeit – Ein Heilmittel gegen Unmenschlichkeit
Die „Demutslehre” ist in zentrales Kapitel der benediktinischen Regel, die eine spirituelle Lebenshaltung, aber auch praktische Bedeutung aufzeigt. Benedikt warnt seine Mönche vor Überheblichkeit, Stolz und Selbsterhöhung, die das Leben zerstören. Die Demut ist nach seiner Meinung der königliche Weg, um Mensch zu werden.
Viele erfahrene Naturheilkundige und Gärtner sagen, dass die Demut die wichtigste Voraussetzung für den Umgang mit Pflanzen und auch mit Menschen ist. Nur wenn jemand demütig staunen kann über die Natur und die Schöpfung, kann er ein ehrliches Verhältnis zu sich selbst und zu den Dingen finden. Jede einzelne Pflanze beeindruckt uns durch ihre jeweilige Eigenart und Kostbarkeit und keine einzige Pflanze auch derselben Art gleicht der anderen. Hier ist die Demut auch eine Lehrerin des Respekts und der Ehrfurcht. Der Umgang mit Pflanzen gleicht dem Umgang mit Menschen. Nur der demütige Mensch staunt in Ehrfurcht vor der Vielfalt der Menschen und allen Lebens. Oberflächlichkeit und Überheblichkeit distanzieren uns vom Leben und von uns selbst. Diese Distanz, Entfremdung und Beziehungslosigkeit ist letztlich aber der Grund von fast allen leibseelischen Erkrankungen.
Spiritualität ist Beziehung
Beziehungen aber gewinne ich nur, wenn ich mir selbst, dem anderen und allem Leben mit Respekt und Ehrfurcht begegne.
Benediktinische Spiritualität ist zuallererst Beziehung. Die Voraussetzung für Beziehung ist Demut mit ihren drei großen Wurzeln.
Das lateinische Wort, das Benedikt benutzt ist „humilitas”. Dieses Wort hat drei Wortwurzeln: ,,Homo (Mensch werden), „Humus” (wandlungsfähig und fruchtbar sein) und „Humor”. Demut hat zuerst einmal mit Menschwerden zu tun. Das ist unsere lebenslange Aufgabe und Herausforderung. Dieser lebenslange Menschwerdungsprozess ist ein immer währender Wandlungsprozess. So wie scheinbare „Abfallprodukte” in einem Komposthaufen verwandelt werden, so ist der Weg der Menschwerdung ein dauernder Wandlungs- und Veränderungsprozess. Dieser Wandlungsprozess verläuft nie geradlinig, ist immer eine Herausforderung und oft ist er auch sehr schmerzhaft. Man könnte auch sagen: es bleibt kein Stein auf dem anderen. Der lebenslange Wandlungsprozess bedeutet nicht den Verlust des eigenen Selbst, sondern fordert täglich eine existenzielle Veränderung. Diese Veränderung vollzieht sich nicht nur im Verhalten, sondern vor allem in meinen Haltungen.
Die dritte Basis der Demut ist Humor. Ohne Humor und der Freude ist kein Menschwerdungs- und Verwandlungsprozess möglich.
Benedikt verwendet in seinem Demutskapitel das Bild von der Leiter: Die beiden Holme symbolisieren den Leib und die Seele des Menschen -und die zwölf Sprossen sind die
Demutslehre „Zwölf Stufen der Demut”
So trägt die Leib/Seele- Einheit den Menschen auf seinem Weg, der ihn über die ,,Stufen der Demut” zum Leben führt. Allerdings stellen die einzelnen Stufen keine Rangfolge von unten nach oben dar, sondern symbolisieren die Verbindung von Himmel und Erde.
Als erste Stufe der Demut bezeichnet Benedikt die Ehrfurcht vor Gott – und damit vor dem Leben. Ehrfurcht vor Gott ist heute selten geworden, weil Gott als abstrakte, ferne Größe gesehen wird. Ehrfurcht aber braucht eine personale Beziehung.
In der zweiten Stufe der Demut fordert Benedikt, dass seine Mönche zur Einsicht kommen sollen, dass es falsch ist, nur den eigenen, egoistischen Willen durchzusetzen und dass wirkliches Leben nur möglich ist in einer Ich-Du-Beziehung zu anderen Menschen, zu Dingen- zu Lebewesen in der Natur, zur Schöpfung und zu Gott. Der Ego-Trip führt in die Sackgasse und macht krank.
In der dritten Stufe der Demut spricht Benedikt vom Gehorsam der Mönche. Damit meint er, dass die Mönche mit Liebe und Aufmerksamkeit ein Leben lang, bis zum Tod, aufeinander und miteinander ,,hören“ sollen. Die Entfaltung dieser Fähigkeit ermöglicht die Hingabe an einen Menschen, an eine Sache, an die höhere Ordnung.
Tapferkeit und Beharrlichkeit
Um Tapferkeit und Beharrlichkeit auch in schwierigen Lagen, sogar wenn einem Unrecht geschieht, geht es in der vierten Stufe der Demut. Stärke in der Krise, Treue zu sich und zu anderen – Benedikt drückte es vor 1.500 Jahren so aus: „Er (der Mönch) erträgt das alles, ohne sich entmutigen zu lassen oder wegzulaufen, denn er denkt an das Wort der Schrift: Wer bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet”. Demütig zu sein, heißt nicht kuschen – im Gegenteil: das beharrliche Verfolgen seines Weges bringt manchmal mit sich, dass man sich quer stellt, dass man mit Geduld und ohne Aggression seine Stimme erhebt, um Unheil oder Gefahren abzuwenden. Demütig sein heißt auch seine Gedanken und inneren Regungen, die im eigenen Herzen aufsteigen, ins Bewusstsein zu holen – so die fünfte Stufe. Diese Offenlegung vor sich selbst und vor einem Anderen ist eine Form von Selbsterkenntnis, in der die eigene Schuld, das Versagen nicht mehr verborgen wird – Schwächen gehören zum Leben – dazu Zu stehen, befreit den Menschen von der Angst, entdeckt zu werden und gibt ihm Stärke.
Versöhnung in der Demutslehre
In der sechsten Stufe geht es um Versöhnung und darum, sich manchmal auch mit dem Geringeren und Erfolglosen zufrieden zu geben. Dieser Haltung liegt die Einsicht zugrunde, dass man seine eigenen Grenzen erkennt und auch die der Anderen, die ebenfalls unvollkommen sind, und nicht maßlose Perfektion fordert. Die Selbsterkenntnis, dass man im Leben vieles nicht kann, darf nicht verwechselt werden mit einem Minderwertigkeitskomplex. Demut ist eine Tugend, die den Selbstwert des Menschen nicht verletzt, auch wenn er Schwächen hat. Die siebte Stufe zur Demut verstärkt diese Erkenntnis der eigenen Grenzen noch einmal. Jetzt geht es aber darum, sich nicht nur in Worten und Handlungen zurückzunehmen, sondern wirklich aus innerster Überzeugung. Dass wir uns an gemeinsame Regeln halten, fordert Benedikt in der achten Stufe der Demut. Das bedeutet zweierlei: der Mensch braucht für sein Leben eine Grundordnung – und er muss beachten, was er im Leben von seinen Lehrern und Lehrerinnen gelernt hat. Eine gemeinsame, verbindliche Lebensregel gibt allen Sicherheit. Ohne verbindliche Regeln bricht Chaos aus.
Zuhören, Freundlichkeit & Würde
In der neunten Stufe der Demut stellt Benedikt fest, dass es oft gesünder, heilsamer und wohltuender ist, nicht einfach drauflos zu plappern. Um Schweigen, um aufmerksames Zuhören und ums Reden geht es auch in der zehnten und elften Stufe der Demutslehre. Benedikt ermahnt, vor allem den Spott zu vermeiden. Überhebliches Gelächter, Witze zu reißen über andere, beim Reden unwahrhaftig zu sein, zu frotzeln – das untersagt die Demut. Ein Rat, der auch heute manchen Streit und viele Verletzungen verhindern kann.
Die elfte Stufe verlangt von dem, der spricht, Freundlichkeit und Würde. Und wörtlich schreibt Benedikt allen ,,Dampfplauderern ins Stammbuch: „Den Weisen erkennt man an der Kürze seiner Rede”.
Die zwölfte und letzte Stufe der Demutslehre will, dass der Mensch in seinem inneren und äußeren Verhalten authentisch ist, ganz auf den Boden der Tatsachen kommt. Herz und Mund sollen miteinander im Einklang sein. Auf der ersten Stufe schaute der demütige Mensch zum Himmel, jetzt blickt er auf die Erde.
Das rechte Maß als Basis der Demutslehre
Für unser heutiges Leben bedeutet das: Wir sollen bei allem, was wir tun, maßvoll und menschlich sein – beim Denken, beim Reden, beim Handeln. Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung erzeugt geistige und körperliche Krebsgeschwüre, Durch die Demut bekommt der Mensch das gute Leben zurück, das ihm vorher die Angst weggenommen hat. Liebe, Freude am Leben und Kraft zur Gesundheit sind dafür der Lohn. Demut wird oft falsch verstanden als „Buckeln”, als Scheinheiligkeit und Unwahrhaftigkeit. Das ist nicht richtig. Zur Demut braucht der Mensch ein starkes Rückgrat, innere Sicherheit und das Vertrauen in seinen Selbstwert. Die Einübung der Demut wird den Allmachtwahn von dem heute viele träumen, beseitigen und das Tor zum wirklichen Leben aufstoßen, in dem auch Schwächen und Unvollkommenheit ihren Platz haben. Menschen, die von schwerer Krankheit gezeichnet sind, werden heute zu Hoffnungssymbolen. Demut macht den Menschen frei und gibt anderen Trost.
Wir brauchen nicht in die große Welt zu blicken, um zu begreifen was Unmenschlichkeit ist. Sie ist in unserer unmittelbaren Umgebung genauso zu finden. Das Heilmittel der Menschlichkeit, die Fähigkeit sich in lebendige Wandlungsprozesse einzulassen und der Humor, können mithelfen eine Heilung zu bewirken.
Pater Dr. Johannes Pausch 0SB, Prior des Europaklosters Gut Aich und 1. Vorsitzender des Vereins Europäische Klosterheilkunde Gut Aich